Zugehört 79-Transkript

Zugehört 79-Transkript

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32 MIN

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Timon Radicke: Es ist früh am Morgen, Die Sonne geht langsam auf. Die Temperaturen sind mild. Zwar sinken nachts die Temperaturen noch leicht unter den Gefrierpunkt und sorgen hier und da für etwas Bodenfrost. Aber tatsächlich ist dieser März im Jahr 1945 verhältnismäßig mild. Das Kriegsende steht kurz bevor. Viele ahnen es, nicht viele sprechen es aus. Das Deutsche Reich weicht bereits seit Monaten an allen Fronten aus. An der Westfront zieht sich die Wehrmacht hinter die letzte natürliche Grenze zurück, um die Stellung zu halten: hinter den Rhein. Bereits in den vergangenen Wochen wurden vermehrt Rheinübergänge durch die Wehrmacht gesprengt. Die Voraussetzungen für den Übertritt der Alliierten sind in diesen Tagen denkbar schlecht. Vieles konzentriert sich auf eine der letzten intakten Brücken über den Rhein, die auch in der Lage ist schweres Gerät abzulasten – die Ludendorffbrücke bei Remagen.

Und damit herzlich willkommen bei Zugehört, dem Podcast des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr.

In diesen Tagen jährt sich das Kriegsende 1945 zum 80. Mal. Für uns Grund genug mal auf das Chaos der letzten Kriegswochen zurückzublicken.

Gemeinsam mit Dr. Peter Lieb, Regierungsdirektor am ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, sprechen wir über vier Szenarien, die zum Kriegsende führten. Mein Name ist Timon Radicke, ich bin Oberstudienrat, Major der Reserve und tätig in der Pressearbeit des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr.

Herzlich willkommen, Herr Dr. Lieb. Schön, dass Sie da sind.

Dr. Peter Lieb: Hallo, Herr Radicke.

Radicke: Herr Dr. Lieb, wir kennen die Brücke von Remagen, vor allem aus der Popkultur. Es gab einen sehr berühmten amerikanischen Film in den 60ern, der so hieß. Diese Ludendorffbrücke, wie sie eigentlich tatsächlich hieß, was war eigentlich das strategisch Besondere dabei?

Lieb: Diese Ludendorffbrücke war eine von ca. 30 Brücken, die den Rhein überquerten, damals 1944-1945. 

Und diese Rheinbrücken, egal ob Eisenbahnbrücke oder für den Autoverkehr, wurden von der Wehrmacht auf dem Rückzug allesamt gesprengt. Und mit einer Ausnahme noch diese Ludendorffbrücke. Und die bekommt dadurch eine Besonderheit, weil eine intakte Brücke über den Rhein, der Rhein ist ein großes natürliches Hindernis. Das ist jeder, der den Rhein mal gesehen hat, weiß relativ hohe Fließgeschwindigkeit, relativ breit. Das ist für große Truppenkörper und für das ganze Material natürlich ein großes Hindernis, dies zu überqueren.

Radicke: Warum wurde genau diese Brücke nicht gesprengt?

Lieb: Ja, die Ludendorffbrücke gibt es noch einen deutschen Brückenkopf, linksrheinisch davon. Also sprich, das sind noch deutsche Truppen und die müssen rüber geführt werden, auf die rechte Seite des Rheines. Und jetzt kommt es natürlich bei Brückensprengungen immer genau darauf an den richtigen Zeitpunkt abzupassen. Also wenn die genügend eigene Truppen rübergekommen sind, dass man genau den Zeitpunkt erwischt, bevor der Gegner kommt, dort die Brücke zu sprengen. Und dieser deutsche Rückzug zieht sich etwas dahin. Und als zweites kommt noch dazu ein riesiges Befehlschaos auf deutscher Seite, dass da der Oberbefehl über die Brücke immer wieder wechselt. Und als letzter Punkt kommt noch dazu, dass die Deutschen zu wenig Sprengstoff haben. Also die Brücke soll zwar gesprengt werden, es gibt zwar auch Zündungen, aber die Brücke hebt sich zwar an, aber fällt dann wieder zurück in ihr Fundament. Und ist nicht beschädigt und die Deutschen ziehen sich zurück. Und so fällt durch einen Handstreich diese Brücke in amerikanische Hände.

Radicke: Und trotzdem, wenn man sich die Brücke bzw. die Überbleibsel der Brücke heute anguckt, steht sie ja nicht mehr. Es stehen, glaube ich, nur noch die Fundamente davon. Wie ist es dann letztlich trotzdem zum Einsturz gekommen?

Lieb: Ja, die Brücke ist stark beschädigt, trotzdem durch diese Sprengversuche. Die Amerikaner können allerdings in den folgenden Tagen mehrere tausend Soldaten, also mehrere Divisionen eigentlich sogar, auf die rechtsrheinische Seite schicken über diese Brücke. Aber sie soll gleichzeitig auch noch repariert werden. Und bei diesen Reparaturarbeit, weil sie eben so stark beschädigt ist, stürzt sie ein.

Die ganzen deutschen Versuche, diese Brücke mittels Artillerie oder V-Waffen zu zerstören in den ganzen Tagen zuvor, die waren alle erfolglos. Letztlich ist die Brücke dann in sich selber zusammengebrochen.

Radicke: Man lernt ja in der militärischen Ausbildung relativ schnell. Nichts ist so beständig wie die Lageänderung. Man nimmt sich immer Dinge vor und in dem Moment, wo das Gefecht beginnt, ist eigentlich nichts mehr davon 100%ig umsetzbar. Die Wehrmacht hat sich das ja auch anders vorgestellt mit dem Rhein als natürliche Grenze, auch um die Alliierten entsprechend aufzuhalten.

Gibt es eigentlich Aufzeichnungen, Überlieferungen darüber, wie das Führerhauptquartier auf die Einnahme durch die Alliierten reagiert hat? Also einmal, ich sage jetzt mal persönlich, menschlich. Auf der anderen Seite aber eben auch strategisch militärisch sind da Verbände dann umgegliedert worden. Wurden da Entscheidungen von abhängig gemacht?

Lieb: Als Hitler davon erfährt, denkt er sofort wieder an Verrat. Und es geschieht das, was besonders in den letzten Kriegstagen und Kriegswochen häufig geschieht. Es wird ein fliegendes Standgericht eingesetzt und die vermeintlich Schuldigen werden ein paar Tage später geschnappt, also deutschen Soldaten, deutsche Offiziere. Und fünf Todesurteile werden ausgesprochen, vier davon werden sofort vollstreckt. Und einer der hat Glück, ein Hauptmann, weil der in amerikanische Kriegsgefangenschaft gekommen ist.

Die Einnahme der Brücke von Remagen sorgt auch dafür, dass die Alliierten jetzt eine Trumpfkarte haben an der Westfront. Man muss immer sich vor Augen halten, die Alliierten gehen sehr langsam und sehr bedächtig. In den Wochen zuvor, haben sich an den Rhein angenähert, weil sie eben Angst hatten, dass die Wehrmacht doch noch ziemlich viel Kraft hat, während die Rote Armee zeitgleich die ganzen deutschen Ostgebiete und das besetzte Polen überrennt.

Ich möchte es mit einer Zahl noch unterlegen. Also wenn man sich anschaut, die amerikanischen Verluste im Zweiten Weltkrieg, Monat für Monat auf dem europäischen Kontinent, so sind die höchsten Verlustzahlen, die sind während der Ardennenoffensive, also im Herbst bzw. Spätherbst, Dezember 1944, und dann anschließend in der Normandie, also Juni/Juli 1944 und dann die dritthöchsten Verluste sind schon im März 1945. Das heißt, also die Amerikaner haben bis sie eigentlich diese Brücke einnehmen, sehr hohe Verluste. Und jetzt steht ihnen plötzlich die Möglichkeit offen, über den Reihen drüber zu gehen und in das Herz Deutschlands einzudringen. Also nördlich davon ist das Ruhrgebiet, das wird dann umschlossen und sie können auch nach Süden und nach Osten vordringen.

Radicke: Also das war ja offensichtlich ein glücklicher Zufall, dass diese Brücke in die Hände der Alliierten gefallen ist. Kann man ungefähr einschätzen, wie sehr es den Kriegsverlauf beeinflusst hätte, wäre dieser Rheinübertritt nicht möglich gewesen zu diesem Zeitpunkt?

Lieb: Man kann das Ganze nur im Vergleich sehen mit anderen Orten, wo die Alliierten den Rhein überschreiten. Da ist das größte Beispiel dafür, die Operation Plunder am 23. März, überschreiten kanadische, britische und amerikanische Truppen den Niederrhein nördlich vom Ruhrgebiet, also in etwa drei Wochen, nachdem die Brücke von Remagen in amerikanische Hände kommt, oder knapp drei Wochen. Also man muss davon ausgehen, die Brücke von Remagen hat den Alliierten oder den Amerikanern in diesem Fall zwei bis drei Wochen einen Vorteil gegeben, das klingt im ersten Moment nicht ganz so viel, aber wenn man sich anschaut, wie schnell es in den letzten Kriegswochen wie das Deutsche Reich zusammenbricht, wie die Wehrmacht zurückweicht überall, egal ob im Osten oder im Westen, sind zweieineinhalb Wochen doch ein beträchtlicher Zeitraum.

Radicke: Also ein, man könnte fast sagen, kleiner, neudeutsch Gamechanger für die Alliierten. 

Lieb: Ja, definitiv, und muss sich das ja immer vorstellen, dass die Alliierten und die Rote Armee oder die Sowjetunion und die sind zwar verbündet, aber natürlich wissen beide, dieses Bündnis oder fragen sich beide, wie lang dieses Bündnis eigentlich halten wird und wer mehr Teile des Deutschen Reiches erobern kann, der hat auch besser die späteren Karten für Verhandlungen für die Nachkriegszeit.

Radicke: Von Remagen bewegen wir uns jetzt in den Süden Deutschlands. Dachau – ein Städtchen vor den Toren Münchens – atmet die Stille der jahrhundertealten Gassen in denen die Zeit sanft zu verweilen scheint. Fachwerkhäuser mit schiefen Dächern ducken sich aneinander. Ihre Fensterläden blass vom Wetter und den Jahren. Die kopfsteingepflasterten Straßen schlängeln sich sanft durch eine Hügellandschaft, die sich im Frühling in sattes Grün taucht und im Herbst in goldene Melancholie verfällt. Am Marktplatz plätschert ein alter Brunnen, um den herum das Leben summt. Bäcker, Metzger, kleine Cafés mit dem Duft von frischem Kaffee und süßem Gebäck. Doch über allem liegt eine ungesagte Schwere. Ein Schatten aus der Vergangenheit, der sich in die Stille des Morgens mischt. Unweit von dieser Idylle liegt, von Wäldern umschlossen, das Konzentrationslager Dachau. Das erste Konzentrationslager, das die Nationalsozialisten bereits 1933 errichteten. Es dient zunächst als Lager für politische Gefangene und wurde später ein Vernichtungsinstrument für Juden, für Widerstandskämpfer, Kriegsgefangene und andere Verfolgte. Hier herrscht seit einigen Tagen in diesem April 1945 das absolute Chaos. Während in den Jahren zuvor der planmäßig und industriell durchgeführte Mord präzise wie ein Uhrwerk durchgeführt wurde, bricht jetzt eben dieses Chaos aus.

Herr Dr. Lieb, ab wann war klar, dass Dachau nun in die Hände der Alliierten geraten würde und wie hat vor allem die SSSchutzstaffel darauf reagiert?

Lieb: Wir hatten es ja vorher schon mit der Brücke von Remagen und den letzten Kriegstagen, dass da alles sehr schnell geht. Also ab Mitte April ist eigentlich den Entscheidungsträgern da in Dachau und in dieser Region klar, dass innerhalb weniger Tage mit der Ankunft der Amerikaner gerechnet werden muss. Und Dachau ist ja nicht das erste Konzentrationslager, was in alliierte Hände fallen wird oder gefallen ist. Die SSSchutzstaffel hat da bereits und Himmler, die haben da schon vorab Maßnahmen getroffen, um möglichst die Spuren dieses ganzen monströsen Verbrechens zu verwischen. Also es ist nicht nur in Dachau, sondern in anderen Konzentrationslagern. Die wurden teilweise gesprengt und vor allen Dingen die Insassen wurden evakuiert. Man muss sich das vorstellen, dass im Westen und Osten des Deutschen Reiches immer mehr ins Zentrum geschickt. Und da kommt es dann zu diesen bekannten, berüchtigten Todesmärschen, wo KZ-Insassen mit schlechter oder gar keiner Verpflegung gezwungen werden, über die Landstraßen zu laufen ins Innere des Deutschen Reiches und da auch erstmals eigentlich vielen oder zumindest der Landbevölkerung in Deutschland klar sein muss, dass da ungeheure Verbrechen passieren in diesen Konzentrationslagern. Und gleichzeitig kann man sich natürlich fragen, warum macht es eigentlich Himmler? Warum lässt er die ganzen KZ-Insassen nicht sofort erschießen?

Da ist immer noch nicht die Wissenschaft sich ganz klar darüber, aber vermutlich will Himmler damit eine Verhandlungsmasse haben. Also sprich, wenn er noch einige Tausende von Juden oder auch anderen Gegner des Nationalsozialismus hat, kann er vielleicht da noch mit den Westalliierten oder auch mit der Roten Armee in irgendeiner Form verhandeln.

Und es ist natürlich alles menschenverachtend und zynisch, aber das ist natürlich beschreibt den Charakter dieses NSNationalsozialismus-Regimes auch nochmal sehr gut.

Und so ist es auch in Dachau, da ist am 14. April während der bereits die ersten Befehle gegeben zu evakuieren und das eigentliche Lagerpersonal der SSSchutzstaffel flieht dann auch.

Wobei der Betrieb als solches in Konzentrationslager weitergeht mal vorerst. Auch wenn nicht mehr diese ganzen Arbeitskommandos rausgeschickt werden, man muss sich in Konzentrationslager immer als Lagersystem vorstellen. Also es ist nicht nur das Konzentrationslager Dachau gab und das Konzentrationslager Buchenwald und Bergen-Belsen, da gab es immer ganz viele Außenlager, wo KZ-Häftlinge für Arbeit, arbeiten unter unmenschlichen Bedingungen, herangezogen wurden für Kriegswirtschaft und für andere industrielle Tätigkeiten.

Radicke: Nehmen Sie uns mal mit in diese Tage, an diesen 29. April, wenn die ersten USUnited States-Soldaten dieses Lager, man könnte ja fast sagen entdecken.

Lieb: Ja, sie kommen an. Also Sie haben bereits die ersten Außenlager, einen Tag zuvor, bei Kaufering beispielsweise. So ein Ort, 80 Kilometer, 50 Kilometer, 80 Kilometer westlich von München bereits befreit. Aber Sie erwarten eigentlich da jetzt in dem Konzentrationslager. Sie denken da schon, dass da irgendwas passieren könnte, aber die Bilder, die sich Ihnen dann eröffnen, die übersteigen dann doch die menschliche Vorstellungskraft. Also Sie sehen da Leichen von Menschen liegen, die getötet wurden, die ja verhungert sind. Und besonders erschreckend ist für die Amerikaner der sogenannte Zug von Buchenwald. Buchenwald ist ein anderes Konzentrationslager, das evakuiert wurde in den Wochen zuvor. In den sogenannten Todesmärschen, die wurden ja nicht nur zu Fuß die KZ-Häftlinge evakuiert worden, sondern auch in diesem Fall von Buchenwald mit dem Zug.

Und dieser Zug irrt Tage ja sogar wochenlang durch Deutschland durch, ohne dass er irgendwo Halt findet und ziellos umher. Es gibt dann, wenn er irgendwann hält, dann teilweise gibt es dann noch ein bisschen Verpflegung. Nichtsdestotrotz von den 4500 Häftlingen sterben ein Großteil davon, also weit über 2000 oder 3000, andere steigen bereits vorher aus oder ein bisschen sterben bereits vorher. Man kann sich also vorstellen, dass in diesem Zug mit den ursprünglich 4500 Insassen, da kommen nur ein paar hundert lebendig an und der Rest liegt, es sind Leichenberge in diesen Waggons drinnen. Als die Amerikaner dies entdecken, da sind sie total schockiert über so viel menschliches Verbrechen und so viel menschliche Niedertracht.

Radicke: Es gibt im Zuge der Befreiung dieses Konzentrationslagers dann auch relativ schnell Geschichten von standrechtlichen Erschießungen durch USUnited States-Soldaten. Was ist da überliefert?

Lieb: In Dachau kommt es. Im Angesicht dieses Ganzen, der grauenhaften Bilder und vor allem dieses Zuges von Buchenwald geht sofort die Parole um, wir nehmen keine Gefangenen. Das wird dann versucht zwar von der amerikanischen Führung, also vor Ort zu unterbinden, nichtdestotrotz kommt es dazu spontanen Erschießungen des SSSchutzstaffel-Wachpersonals, wobei man dann sagen muss, es betrifft dann häufig diejenigen, die erst ein paar Wochen vorher reingekommen sind. Aber nichtdestotrotz auch diejenigen, die die letzten Tage davor dabei waren oder erst reingekommen sind, haben trotzdem noch bis zum Schluss zur Aufrechterhaltung dieser Todesmaschinerie beigetragen und auch wenn es natürlich nicht Gefangene nach Völkerrecht rechtswidrig ist, die zu erschießen, aber es ist natürlich ein absolut verständlich aus menschliches Rachebedürfnis heraus, absolut verständliche Handlung, dass die amerikanischen Soldaten in dieser Form da überreagieren.

Radicke: Jetzt haben Sie gerade schon gesagt, das ist im Grunde das erste Mal, dass die Amerikaner sehen, was tatsächlich in diesen Konzentrationslagern vor sich geht. Früher wurde ja schon Ausschwitz befreit durch die Rote Armee.

Also hat diese Befreiung von Dachau eine Veränderung in der Betrachtungsweise der Alliierten auf die, ich sage es jetzt mal, deutsche Regierung, die deutsche Wehrmacht, die SSSchutzstaffel, überhaupt auf den Krieg?

Lieb: Sie haben schon gesagt, es ist nicht das erste Konzentrationslager, was befreit wird, aber Auschwitz wird von der Roten Armee befreit, Bergen-Belsen von der Britischen Armee, wenige Wochen vor Dachau.

Buchenwald wäre ein Beispiel, wo zwar von den Amerikanern selbst befreit wurde, aber Dachau hat halt diese hohe Symbolik auch. Als erstes Konzentrationslager hat es steht es stellvertretend für diese verbrecherischen Lagersysteme. Jetzt sehen die Amerikaner praktisch erneut noch einmal das. Mit diesen erschreckenden Bildern von diesem Zug aus Buchenwald sehen Sie, dass das, was da ungehörige Verbrechen begangen sind, im deutschen Namen.

Bislang hatten die Amerikaner gerade von der Wehrmacht ein ganz ordentliches Bild gehabt. Es war zwar der Gegner, aber im Gegensatz zur SSSchutzstaffel, die behandeln die Kriegsgefangenen, einigermaßen ordentlich. Und jetzt mit dieser Befreiung der Konzentrationslager und mit der Befreiung von Dachau, sie setzen eine Untersuchungskommission sofort ein. Und sie führen auch die Zivilbevölkerung, die örtliche Zivilbevölkerung in die Konzentrationslager, dass diese Bevölkerung nicht sagen kann, wir wussten das alles nicht, wir hatten das alles nicht gewusst. Gerne ein Narrativ in der Nachkriegszeit gewesen.

Und es führt vor allen Dingen dazu, dass die Amerikaner jetzt für mehrere Wochen auch dieses Bild, dieses einigermaßen ordentlichen Gegner sozusagen völlig über Bord werfen und auch eine harte Bestrafung für Deutschland da fordern. Und da kommt es dann auch bekanntes Beispiel, das Beispiel, die Rheinwiesenlager, deutsche Kriegsgefangene, da kurz nach der Kapitulation, die da unter schwierigen Bedingungen gehalten wurden, wo es auch zu mehreren Todesfällen gekommen ist, das ist alles eine Reaktion darauf auf die Befreiung von Dachau und der Konzentrationslager, weil man da auf amerikanischer Seite eben den deutschen generell eine Schuld gibt an diesen ganzen monströsen Verbrechen.

Radicke: Fast gleichzeitig nähert sich eine kleine Kolonne deutscher Flaksoldaten auf einem Feldweg zwischen den kleinen italienischen Gemeinden Musso und Dongo in der Nähe des Comer Sees einer von Partisanen errichteten Straßensperre. Es dauert nur wenige Augenblicke bis die Partisanen unter einer deutschen Uniform Benito Mussolini erkennen. Schnell nehmen sie den auf der Flucht befindlichen Duce fest und übergeben ihn am Folgetag an eine Partisanengruppe aus Mailand. Am Rande des Dorfes San Giulino di Mezzegra wird Mussolini am Nachmittag des 28. April 1945 erschossen. Seine Leiche wird nach Mailand transportiert und kopfüber an einer Tankstelle aufgehängt. Am selben Tag unterzeichnen Vertreter der Wehrmacht im norditalienischen Casserta ein Kapitulationsdokument, das die Übergabe aller deutschen Truppen in Italien anordnet.

Herr Dr. Lieb, wie kam es überhaupt dazu, dass deutsche Truppen in Italien gekämpft haben?

Lieb: Italien hat im September 1943 kapituliert und ist von einem deutschen Bündnispartner zu einem deutschen Gegner geworden. Es standen aber zu diesem Zeitpunkt noch deutsche Truppen in Italien, weil man eine gemeinsame deutsche italienische Verteidigungsstrategie ausgearbeitet hatte.

Jetzt sind die Italiener halt nicht mehr dabei, aber die deutschen Truppen stehen weiter in Italien. So kommt es dazu, dass die deutschen Truppen von September oder Herbst 1943 bis zum Frühjahr 1945 einen Krieg auch in Italien führen gegen die Alliierten. 

Radicke: Nun ist es ja so, dass die sogenannten Achsenmächte, also vor allen Dingen auch Italien und Deutschland im Kampf verbunden, Benito Mussolini auf der einen Seite, Adolf Hitler auf der anderen Seite. Mussolini aber zu dem Zeitpunkt ja eigentlich schon gar nicht mehr, ich sage es jetzt mal, im Amt war, oder?

Lieb: Mussolini wurde von der italienischen Regierung 1943 verhaftet, aber er wird dann von deutschen Fallschirmjägern, im Auftrage Hitlers, befreit und wird jetzt als Regierungschef einer italienischen Gegenregierung in Norditalien installiert in der Repubblica Sociale Italiana.

Auch genannt die Regierung von Salò, benannt nach dem Regierungssitz in Salò am Gardasee. Und das ist eine deutsche Marionettenregierung und größere italienische Verbände nehmen eigentlich im Krieg gegen die Westalliierten nicht teil. Es ist viel eher, dass diese italienischen faschistischen Verbände zur Partisanenbekämpfung eingesetzt werden und sich daraus eigentlich in Nord- und Mittelitalien auch so ein italienischer Bürgerkrieg da entspannt.

Radicke: Man muss sich das ja mal vorstellen, wenn wir das jetzt mal auf der Zeitschiene sehen, also das passiert ja mehr oder weniger alles zeitgleich, beziehungsweise im Ablauf weniger Tage. Also wir haben jetzt, wir haben gerade über Dachau gesprochen, 29. April, die Festnahmen Mussolinis am 26. April, die Erschießung ein Tag später, zwei Tage später dann die Kapitulation der deutschen Truppen in Italien, das überschlägt sich ja wirklich alles im Grunde in diesen wenigen Tagen.

Hat die deutsche Wehrmacht im Vorfeld dieser Kapitulation, ich sag mal, erste Auflösungserscheinungen schon gehabt in irgendwie in Italien?

Lieb: Auflösungserscheinungen als solches können wir eigentlich nicht davon sprechen, bei der Wehrmacht in Italien im Frühjahr 1945.

Andererseits gibt es aber Friedenverhandlungen und zwar geheime Friedensverhandlungen, die geführt werden durch zwei Schlüsselpersonen. Einerseits Allen Dulles, das ist der Chef des OSS und der höchste SSSchutzstaffel- und Polizeiführerin in Italien, Karl Wolf, ein SSSchutzstaffel-General der früher Chef des Stabes beim Reichsführer SSSchutzstaffel, bei Himmler war. Also ein hundertprozentiger Nazi oder 150-prozentiger Nazi, der auch in die Kriegsverbrechen und in die Judenvernichtung ganz massiv involviert war. Der allerdings jetzt hofft, durch geheime Friedensverhandlungen, die auf schweizer Boden stattfinden, Strafimmunität zu gewinnen. Und so kommt es zu Verhandlungen mit den Amerikanern, die wiederum Interesse daran haben, dass Norditalien mit der starken kommunistischen Widerstandsbewegung nicht in kommunistische Hände fällt. Beide Seiten haben ein gewisses Interesse daran. Und jetzt diskutieren die beiden über die Bedingungen. Und die Sowjetunion bekommt es jetzt mit. Stalin, der hat Angst, dass es dazu einem Separatfrieden kommt. Die deutschen Truppen werden an die Ostfront geschickt. Und das ist schon eigentlich auch ein erstes Zeichen des aufkommenden Kalten Krieges, dieses ständige Misstrauen der beiden Kriegsparteien. Aber hier hat es, Stalin wittert jetzt, dass er wirklich Verrat betrieben werden könnte. Was natürlich Blödsinn war, vor allen Dingen, dass als Roosevelt der amerikanische Präsident gestorben ist, unterlässt er das. Der Nachfolger der Truman unterlässt dann diese ganzen Friedensverhandlungen.

Nichtsdestotrotz. Das Ganze zögert sich raus. Aber als Endergebnis vielleicht doch festzuhalten, dass die deutschen Truppen in Italien früher kapitulieren als an anderen Plätzen in Europa.

Radicke: Was ja auch ein Beispiel dafür ist, wie das in den letzten Kriegswochen im Grunde alles so ein Stück weit zerfasert.

Wie muss man sich das vorstellen? Ich weiß, dass es so ein sehr populäres Tondokument gibt, das heißt, irgendwie gibt es auch bei YouTube, kann man mal googeln, die letzten Minuten des ersten Weltkrieges, wo man quasi so hört, wie noch die letzten Geschütze feuern, und dann gibt es auf einmal diesen einen Moment, wo der Krieg zu Ende ist und die Waffen schweigen. Wie muss man sich das eigentlich vorstellen? Diese Kapitulation – hören auf einmal grundsätzlich alle auf oder schleicht sich das irgendwie aus?

Lieb: Es gibt natürlich schon Befehle, dass für beide Seite das ab dem und dem Zeitpunkt die Waffen zu ruhen haben. Das ist richtig, aber die Frage ist, ob das auch wirklich jeder Truppenteil auch erfährt davon, gerade irgendwelche isolierten. Und jetzt haben wir in Italien nochmal einen besonderen Fall. Es gibt dort auch die bereits erwähnte Partisanenbewegung, sehr stark kommunistisch dominiert.

Und als die deutschen Truppen sich dann zurückziehen, aus Norditalien beschießen Partisanengruppen die zurückziehenden deutschen Truppen. Und wie reagieren die deutschen Truppen darauf? Sie reagieren darauf, wie sie es in den ganzen Monaten und Jahren so vorgemacht haben, durch blutige Repressalmaßnahmen an der Zivilbevölkerung. Und so kommt es dann nochmal, obwohl eigentlich schon Waffenstillstand in Italien ist, noch einmal Ende April,-Anfang Mai zu einigen schweren deutschen Verbrechen.

Also man kann jetzt nicht sagen, dass der Krieg sozusagen mit dem 29. April sofort aufhört, aber es sind natürlich, sagen wir mal so, die großen Kampfhandlungen an der Front, die hören dann doch auf.

Radicke: Herr Dr. Lieb, sie haben gerade gesagt, dass diese Separatverhandlungen zwischen den Vertretern der Wehrmacht auf der einen Seite und den Alliierten auf der anderen Seite zu einem paar Tage früheren Kriegsende in Italien geführt hat, als jetzt mal im restlichen europäischen Gebiet.

Jetzt betrachte ich das ganze Mal aus der Perspektive eines Soldaten. Da ist also ein Militär, der eine Entscheidung trifft, ein Offizier, ein Stabsoffizier, der eine Entscheidung trifft und quasi separat einen politischen Frieden aushandelt, mehr oder weniger.

Welche Auswirkungen hatte das denn eigentlich auf, die Generalität, die anderen Befehlshaber? Wie ist das aufgenommen worden, dass da auf einmal ein Offizier quasi seine eigenen Entscheidungen trifft, an der Stelle?

Lieb: Heutzutage tun wir uns da natürlich einfach und sagen, das Ganze ist schließlich nur wenige Tage zuvor gewesen, das ist jetzt kein großer Akt des Widerstandes. Aus der damaligen Sicht stellt sich das durchaus anders dar. Die Offiziere oder die ganzen Soldaten sind durch den Eid an Hitler, fühlen sie sich noch gebunden. Hitler lebt zu diesem Zeitpunkt noch und trotzdem gibt es ja bereits Geheimverhandlungen, um den Krieg früher zu beenden. Und das Ganze ist auch nicht, dass es völlig unumstritten ist. Also da gibt es große Diskussionen in den deutschen Stäben, in den höheren Stäben, die davon wissen, ob das überhaupt rechtmäßig ist, das Ganze und ob das mit der Soldaten-Ehre so vereinbaren ist. Und wenn wir da jetzt ein bisschen vorausblicken, ist es ganz interessant, weil da nämlich auch spätere, höhere Bundeswehrgenerelle auch darin involviert sind.

Beispielsweise der erste Inspekteur des Heeres, General Röttiger, damals Chef des Stabes, der Heeresgruppe Südwest in Italien. Der ist beispielsweise ein starker Vertreter, dass dieser Waffenstillstand früher in Kraft tritt. Sein 1C-Offizier, der Nachrichtenoffizier, General Moll, später auch Heeresinspekteur, ist auch ein Vertreter dieser frühen Kapitulation, genauso wie der spätere Kommandierende General des II. Korps der Bundeswehr, der General Pemsel, auch ein Vertreter dieser Kapitulation, die sich dagegen Widerstände durchsetzen müssen und auch im Hintergrund immer haben, dass im Reich noch ihre Familie Gefahr besteht, dass die in Sippenhaft genommen wird. Aber es gibt auch welche, die dagegen sind. Der auch ein weiterer Inspekteur des Heeres, der General Schnez, der ist auch in Italien und der steht auf der Gegenseite. Der sagt das lassen wir. Wir können hier nicht kapitulieren.

Der will sogar den General Moll, damals noch Oberstleutnant/Oberst, verhaften lassen. Wir sehen sogar, dass auch die spätere Bundeswehr-Generalität über diese Frage damals in sich gespalten war. Die mussten sich auch viel vergeben nach dem Krieg für.

Radicke: Das wäre jetzt die nächste Frage gewesen. Haben sich diese Verwicklungen im Grunde noch, ich sage jetzt mal, hinübergetragen in die frühe Zeit der deutschen Bundeswehr, dass sie sich irgendwie spinnefeind war, dass sie sich gegenseitig vielleicht sogar im übertragenen Sinne bekämpft haben?

Lieb: Ja, also das ist in der Tat so, dass Moll und Schnez, also Schnez sollte er war, wird Nachfolger von Moll in den 60er Jahren, also späten 60er Jahren als Inspekteur des Heeres, und Moll sich intern dagegen ausgesprochen hat, dass Schnez sein Nachfolger wird. Unter dem Hinweis, so liest man es in Akten, also gesagt, das ist nur geheim, sagt das intern der Moll, mit Hinweis auf seine damalige Tätigkeit in Italien hat er Bedenken gegen Schnez. Erst habe ich dann die unveröffentlichten Memoiren von Moll gelesen, wo er dann auch drinnen schreibt, dass Schnez ihn damals verhaften wollte. Aber Moll hat es damals nicht publik gemacht, mit Hinblick auf öffentliches Ansehen der Bundeswehr.

Radicke: Also zusammenfassend kann man sagen, die Kapitulation in Italien zeigt, wie der Krieg sich jetzt in seinen letzten Tagen in Verhandlungen auf der einen Seite Chaos und lokalen Kämpfen auf der anderen Seite ein bisschen auflöste.

Es ist ein Beispiel für eine friedliche Kapitulation im Gegensatz zu den erbitterten Kämpfen die zeitgleich in Berlin toben. 29:59min

Am Abend des 26. April landet ein Flugzeug vom Typ FI 156, im Volksmund auch Fieseler Storch genannt, vor dem Brandenburger Tor in Berlin. Im Zentrum einer Stadt, die bereits seit dem Vortrag von der Roten Armee vollständig eingekesselt ist. An Bord befinden sich die Pilotin Hanna Reitsch und General Robert Ritter von Greim, auf dem Weg zu Adolf Hitler. Im Führerbunker wird Greim zum Generalfeldmarschall und zum Oberbefehlshaber der Luftwaffe ernannt. Nach seiner Ernennung nutzen beide das letzte verbliebene Flugzeug, die Charlottenburger Chaussee als Startbahn und begeben sich auf Umwegen nach Salzburg, wo von Greim in USUnited States-Gefangenschaft gerät. Diese Szene eines kleinen Flugzeugs, das in einer eingekesselten Stadt fliegt auf der heutigen Straße des 17. Juni landet um im Führerbunker befördert zu werden. Inwiefern ist diese Szene eigentlich repräsentativ für das Chaos der letzten Tage, gerade auch in Berlin?

Lieb: Diese Szene zeigt ganz eindeutig die ganze Skurrilität und das ganze Chaos in den letzten Kriegstagen. Ritter von Grein wird zum Oberbefehlshaber der Luftwaffe ernannt. Die Luftwaffe selbst existiert aber zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr. Es ist in dem Führerbunker in den letzten Kriegstagen eine richtige Parallelwelt. Man kennt das auch aus dem Film der Untergang, was da sehr plastisch und beeindruckend dargestellt wird. Das ist natürlich auch wieder mit Vorsicht teilweise zu genießen, weil schriftliche Aufzeichnungen gibt es aus dieser Zeit kaum. Das ist meist mit Zeitzeugen gearbeitet worden und das Ganze rekonstruiert worden. Aber trotzdem es zeigt ein plastisches Bild auch dieser ganze Film, basierend auf der Biografie von Joachim Fest. Aber es bleibt trotzdem dieses Bild hängen, dass dort Hitler immer noch mit seiner engsten Umgebung aushält. Er immer noch ein gewisses Charisma hat. Das hat er sich aufrechterhalten und immer noch die Leute rund um ihn in seiner unmittelbaren Umgebung noch fest an ihn glauben oder zumindest ihm weiterhin treu ergeben sind. Und dieser Ritter von Greim ist da ein ganz besonderes Beispiel dafür.

Radicke: Wir sprechen über die Schlacht um Berlin. Wenn man es denn Schlacht eigentlich in dem eigentlichen Sinne noch nennen kann, als das zwei reguläre Armeen sich gegenüberstehen, wer kämpft eigentlich um Berlin wirklich?

Lieb: Um Berlin kämpft eigentlich die beiden Armeen, die rote Armee auf der einen Seite und die Wehrmacht bzw. die Waffen-SSSchutzstaffel auf der anderen Seite.  Allerdings, wenn wir von der Schlacht um Berlin sprechen, beginnt nicht erst irgendwo mit den Straßenkämpfen in Berlin, sie beginnt eigentlich 50 Kilometer östlich von Berlin an den Seelower Höhen. Am 16. April beginnt dort die Rote Armee, ihre letzte Offensive und mit unglaublicher Überlegenheit an Menschen, aber vor allen Dingen an Material.

Und das ist der Auftakt zum Schlusspunkt oder der letzte Schlussakkord des Zweiten Weltkriegs, noch einmal ein besonders brutaler und blutiger, mit vielen Toten und Verwundeten. Und diese Schlacht um Berlin ist eigentlich eine Rennen um Berlin von sowjetischer Seite. Es gibt den Marschall Schukow, der steht mit seiner Front, also Heeresgruppe auf Deutsch, an den Seelower Höhen und weiter südlich, so im Raum Forst, in der Lausitz, steht Marschall Konew, auch mit seiner Heeresgruppe und Stalin gibt bewusst keinen richtigen Befehl heraus, wer eigentlich als Erster Berlin annehmen soll und befeuert damit ein Konkurrenzdenken dieser beiden Feldmarschälle. Und es hat zur Konsequenz, dass beide natürlich diesen Ruhm, die gegnerische Hauptstadt einzunehmen, sich beide an die eigenen Fahnen heften wollen, senden ihre Soldaten bedenkenlos nach vorne rein, um möglichst schnell, egal was diese Verluste sind, um möglichst schnell in Berlin zu sein. Und die Wehrmacht, könnte man jetzt lang darüber reden, aber es hat natürlich nicht zur Sache, aber die Wehrmacht schafft es noch mal ein paar Tage, wirklich dann in den Seelower Höhen, zwei, drei Tage nochmal die Rote Armee zu stoppen, aber letztlich werden jetzt die Verteidigungslinien durchbrochen und letztlich gibt es dann drei Teile, in die sich dann die deutschen Armeen von den Seelower Höhen auflösen. Der eine Teil weicht nach Norden nördlich von Berlin aus, ein anderer Teil fällt auf Berlin zurück, also sprich die ziehen sich auf Berlin zurück unter anderem General Weidling, der später Kampfkommandant wird. Und ein dritter Teil zieht sich nach Süden zurück und ist dort im Kessel von Halbe gefangen genommen und das ist so ein Art wandernder Kessel wie es so schön heißt, die sich dann in den nächsten Tagen westwärts durch die Wälder Brandenburg, so die letzten Verbliebenen dieser deutschen Armee nach Westen zurück schlagen und versuchen durch die zu den amerikanischen Linien zu kommen. Und es wird gerne vergessen, dass diese Schlacht an den Seelower Höhen gemeinsam mit dem Kessel von Halbe, wo es auch nochmal viele Tote gibt, ist gemeinsam mit der Völkerschlacht von Leipzig die blutigste Schlacht auf deutschen Boden. Also hier in den letzten Kriegstagen und es ist auch nochmal blutiger als die Schlacht in Berlin selbst.

Radicke: Wie muss man sich jetzt die Schlacht in der Stadt selbst vorstellen? Also gibt es da jetzt wirklich noch eine militärische Gliederung, wie man sich das vorstellen muss? Und wer ist eigentlich da jetzt alles beteiligt vor allen Dingen so auch von der deutschen Seite? Also ist es da wirklich nur die Wehrmacht und die SSSchutzstaffel die da kämpfen?

Lieb: Nicht nur Wehrmacht und SSSchutzstaffel, auch Volksturm und Hitlerjugend ist dabei, das ist ein wildes Gemisch, was die Deutschen an diesen letzten Kriegstagen noch zusammen kratzen können.(...) Es ist allerdings schon so, dass es bereits ab März, also zwei Monat vorher ungefähr oder knapp zwei Monate vorher, klare Verteidigungslinien gibt, wie man Berlin verteidigen will. In Sektoren aufgesplittet und vor allen Dingen der Hauptkampf soll in der inneren Stadt, innerhalb dieses Eisenbahnringes, der heutigen Ringbahn, die man ja noch kennt, sozusagen der eigentliche Kampf geführt werden. Und es sind ungefähr gut 100.000 deutsche Verteidiger, nicht mehr alle haben Waffen, im Übrigen.

Und diese deutschen Verteidiger konzentrieren sich hauptsächlich an Straßenkreuzungen, U-Bahn-Schächten und es wird nicht jeder einzelne Straßenzug verteidigt. Aber wie gesagt, es gibt Stadtteile und Straßenzüge, wo dann sehr hart noch gekämpft wird. Und weil ich gerade das U-Bahn-System auch genannt habe, das ist auch besonders wichtig, weil dort der Nachschub läuft sehr häufig. Und gleichzeitig sind aber in diesen U-Bahn-Schächten auch deutsche oder Berliner Zivilisten, die den Kämpfen irgendwie entfliehen wollen, die sind völlig auf sich alleine gestellt. Infrastruktur funktioniert da nicht mehr. Wasser, fließend Wasser, ist auch eine schwierige Sache zu bekommen. Und die sind auf sich alleine gestellt und sind dann in diesen U-Bahn-Schächten zu hunderten und zu tausenden, um dort Schutz zu suchen.

Radicke: Sie haben jetzt gerade skizziert, dass militärisch schon im Vorfeld sehr minutiös geplant wurde, wie wollen wir diese Stadt eigentlich verteidigen. Beinhaltet das auch die Frage, wie gehen wir eigentlich mit der Zivilbevölkerung um, gibt es Evakuierungspläne?

Lieb: Die Zivilbevölkerung hat da keine Rolle mehr gespielt, in den militärischen Planungen, zumindest auf höherer Ebene. Das zeigt auch nochmal so die Schlussphase dieses Krieges, wo sich auch Hitlers Wut nicht nur auf den Gegner entlädt, sondern auch auf das eigene Volk, das gibt ja von ihm diesen bekannten Spruch: „Das deutsche Volk hat sich als unterlegen erwiesen gegenüber dem slawischen Volk, also hat es seine Existenzgrundlage verloren.“ Und das sieht man eigentlich noch mal in der Tat in den letzten Kriegstagen, Kriegswochen. Und Evakuierung hat es auch aus dem Fall nicht gegeben. Das ist ja schon eine Frage, die sich bereits im Dezember 1944 gestellt hätte oder im Januar 1945 mit der Großoffensive der Roten Armee in Ostpreußen und in Pommern. Aber es wurde nicht evakuiert zunächst mal aus dem einfachen Grund, weil aus den Augen der Nationalsozialisten hätte das für Chaos und sorgen können und zur schlechter Stimmung unter der deutschen Bevölkerung, dass man sozusagen ankündigen muss, wir müssen euch evakuieren, weil wir uns eh gleich hier zurückziehen müssen. Und in Berlin ist es eben auch so eine Sache, da wird nicht mehr richtig evakuiert. Wer raus will aus der Stadt, der kann da noch einigermaßen, aber seine ganzes Hab und Gut und Wohnung zurückzulassen, das ist ja auch nicht jedermanns Sache. Also insofern ist da auch die Zivilbevölkerung auch vor einer sehr schwierigen Existenzfrage gestellt.

Radicke: Am 30. April begeht dann Adolf Hitler Selbstmord im Führerbunker unter der Reichskanzlei. Es folgen Josef Goebbels mit seiner Frau und seinen Kindern Am 2. Mai ergibt sich General Helmut Weitling der letzte deutsche Kampfkommandant den Sowjets und dann gibt es diese ikonischen Bilder der sowjetischen Soldaten, die auf dem Reichstagsgebäude die sowjetische Flagge hissen. Wie ist dieses Bild entstanden?

Lieb: Ja, das sind natürlich Szenen, die nachgespielt werden. Und zwar viele Szenen aus dem 2. Weltkrieg die wir kennen darf man nie vergessen, sind sehr häufig nachgespielt. Aus dem einfachen Grunde, gerade wenn die Einstellung von der Kamera von vorne ist, ist es schwer vorstellbar, weil das hieße ja, dass der Kameramann vor der eigenen Front liegen würde. Und auch diese Szenen sind nachgestellt, wenn man sich das auch die Filme anschaut, da stürmen die ja die über offene Pläne, stürmen die Rotarmisten ins Reichstagsgebäude direkt hinein. Als ersten Mal würde man rein militärisch nicht so offen über diese Wiese vor dem Reichstag da, stürmen und zwar nicht ins Gebäude einfach so rein, ohne vorher das abzusichern in irgendeiner Form.

Aber die Bilder sind, wie Sie schon sagen, sehr ikonisch, weil sie zeigen halt nochmal wirkmächtig die totale Niederlage des deutschen Reiches mit dem Hintergrund mit der zerstörten Reichshauptstadt und die Rote Armee und auch noch ganz interessant, der eine Soldat, der ein bisschen so ein wagemutig auf den Vorsprung klettert, das zeigt auch nochmal, dass der Wagnis oder den Mut der Roten Armee, des einzelnen Soldaten. Also ist schon viel Wirkmächtigkeit in diesen Bildern drin, die sich eigentlich bis heute eingegraben haben, also in fast jedem Schulbuch sieht man das, fast jedem Film oder Dokumentation über den 2. Weltkrieg kommen diese Bilder, finden Eingang und damit auch in die Vorstellungswelt des Betrachters, der Betrachterin. 

Radicke: Wie muss ich mir Berlin am Tag 1 nach der Kapitulation am 8. Mai vorstellen?

Lieb: Einerseits sicherlich Erleichterung bei der verbliebenen Bevölkerung, weil das Töten endlich ein Ende hat, andererseits auch viel Ungewissheit, auch was das Verhalten der Rotarmisten betrifft. Es kommt ja schließlich zu 10.000, wenn nicht sogar 100.000 Vergewaltigungen im Großraum Berlin. Andererseits die sowjetischen Befehlshaber vor Ort sind schon daran interessiert, möglichst schnell ein normales Leben wieder in Gang zu bringen.

Hintergrund ist, wenn man eine hungernde Bevölkerung hat, dann ist die Möglichkeit eines Aufstandes deutlich höher. Und so versucht die Rote Armee sehr schnell auch wieder das Leben da anzukurbeln, wie auch in anderen Teilen Deutschlands, gerade die Westalliierten auch probieren, um möglichst Unruhen zu verhindern. Und Kapitulation sicherlich am 8. Mai oder jetzt in Berlin schon am 2. Mai ist natürlich ein wichtiger symbolischer Akt und zeigt dann das Ende der Kampfhandlungen.

Radicke: Herr Dr. Lieb, wir haben jetzt vier Szenarien gehört die alle auf ein Ereignis zusteuern, nämlich auf das Kriegsende, wenn wir die jetzt alle mal zusammennehmen wie würden sie das beurteilen Kriegsende das ein linearer Prozess?

Lieb: Ja, das ist ein Prozess, der sehr verwoben ist, der mal schneller geht, der mal langsamer geht. Also nehmen wir jetzt bloß, ich habe es gerade angedeutet, nehmen wir 8. Mai der Kapitulation der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht. Das gilt aber jetzt nur für die Verbände, die im Osten stehen, die im Westen, haben bereits ein paar Tage vorher, in der Lüneburger Heide kapituliert bzw. in Reims. Und Berlin hat am 2. Mai schon kapituliert und jemand, der beispielsweise in Köln wohnt, für den ist der 8. Mai eigentlich irrelevant, weil dort das Leben bereits mit dem Abzug der deutschen Truppen und der Einmarsch der alliierten Truppen eine andere Form angenommen hat. Also der 8. Mai ist ein wichtiger symbolischer Tag und ist schweigen auch die Waffen. Und gerade für die viele Soldaten, die in Kriegsgefangenschaft gehen, ist es natürlich eine große Scheide.

Aber es ist so, dass noch ein paar Tage weiter bis dann die letzten deutschen Truppen kapitulieren, gerade Heeresgruppe Mitte von Genarlfeldmarschall Schörner, die kämpfen wollen noch ein, zwei Tage weiter.

Und der 8. Mai ist auch nicht das Ende des 2. Weltkrieges. Also es gibt, um jetzt nur mal drei Sachen zu sagen, erstens mal allseits bekannt in Japan und in Fernost wird noch weitergekämpft bis Ende August bzw. Anfang September.

Was schon weniger bekannt ist, ist dann, dass es auch in Osteuropa oder in der ehemaligen Sowjetunion. Ukraine, baltische Länder gibt es weiter nationale Aufstandsbewegungen, die sich eigentlich noch in den Jahren, sogar bis zu 10 Jahre danach, weiter brodeln. Und häufig vergessen, in Griechenland geht dieser 2. Weltkrieg nahtlos in einen Bürgerkrieg über zwischen Kommunisten und Nationalisten, der noch mal tausende von Opfern fordert.

Radicke: Vielen herzlichen Dank Herr Dr. Lieb für das spannende Gespräch für die Diskussion über Chaos, Kampf, Kapitulation die letzten Tage des Dritten Reiches. 

Das war Zugehört der Podcast des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Ich hoffe es hat Ihnen genauso gefallen wie mir dieses Gespräch zu führen tatsächlich. Und wenn ihnen diese Folge gefallen hat, dann hinterlassen sie doch auf der Podcast-Plattform ihres Vertrauens eine Rezension, geben sie uns Sterne, Daumen hoch, was immer sie mögen. Und wenn sie uns Feedback geben wollen, dann können sie das natürlich auch tun. Da freuen wir uns ganz besonders drüber. Bis zum nächsten Mal bei Zugehört Danke schön.

von Christian Deckart

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