Narwa 1944
Historische Bildung- Datum:
- Ort:
- Estland
- Lesedauer:
- 5 MIN
„Sterben für Narwa?“ Diese Suggestivfrage erinnert an die Worte des französischen Sozialisten Marcel Déat “Mourir pour Dantzig?“ (Sterben für Danzig?). Er warnte 1939 davor, Frankreich könnte wegen deutsch-polnischer Streitigkeiten um eine „unbedeutende“ Stadt in einen Krieg hineingezogen werden.
Dementsprechend entwickelte der britische Thriller-Autor Tom Clancy 2013 in seinem Buch „Command Authority“ ein “Narwa-Szenario“, in dem Russland durch einen begrenzten Angriff auf diese estnische Grenzstadt die NATONorth Atlantic Treaty Organization herausfordert.
Der Militärexperte Carlo Masala hat in seinem neuesten Buch „Wenn Russland gewinnt“ (erschienen im März 2025) ebenfalls ein “Narwa-Szenario“ heraufbeschworen. Was wäre, wenn Russland handstreichartig diese Stadt besetzen würde? Wäre dann für alle NATONorth Atlantic Treaty Organization-Staaten der Bündnisfall nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags gegeben? Ein Kampf um Narwa war 1944 blutige Realität. Am 14. Januar hatte die Rote Armee den deutschen Belagerungsring um Leningrad durchbrochen. Die Heeresgruppe Nord musste sich auf die „Panther-Linie“ zurückziehen. Deren nördlicher Abschnitt verlief vom Peipussee entlang der Narwa bis zum Finnischen Meerbusen. Am 3. Februar erreichte eine Vorausabteilung der sowjetischen Leningrad-Front den Fluss. Nun begann die fünf Monate dauernde “erste Schlacht von Narwa“, wobei es der Roten Armee zunächst nicht gelang, auf das Gebiet des heutigen Estland durchzubrechen.
Die “zweite Schlacht von Narwa“ dauerte nur 18 Tage, war jedoch von erheblicher Dramatik. Am 24. Juli eröffnete die Leningrad-Front eine neue Offensive. Die deutsche Führung hatte inzwischen 16 Kilometer weiter westlich die „Tannenberg-Stellung“ ausbauen lassen. Diese riegelte die nur 45 Kilometer breite Landenge von Narwa ab. Hier ragen inmitten der flachen Küstenebene drei Hügel, die Blauen Berge (Sinimäed), empor. Sie bildeten gleichsam einen “Korken im Flaschenhals“ und waren die Hauptbastion der Verteidigung.
In dieser Landenge war hauptsächlich das III. SSSchutzstaffel-Panzerkorps eingesetzt. Es trug allerdings seinen Namen zu Unrecht, da es kaum über Panzer verfügte. Außerdem dienten in ihm, abgesehen von höheren Offizieren und ihren Stäben, nur wenige Deutsche. Es waren stattdessen Freiwillige aus verschiedenen Ländern Europas, vor allem aus dem Baltikum. Mehr als die Hälfte der Infanterieverbände war so gesehen estnisch. Nach der Besetzung des Baltikums 1940 durch sowjetische Truppen hatte der gefürchtete Sicherheitsdienst des sowjetischen Innenministeriums NKWD seine Schreckensherrschaft mit Erschießungen und Deportationen ausgeübt. So hatten sich nach dem Einmarsch der Wehrmacht viele Männer freiwillig den Deutschen angeschlossen, um gegen Stalin und für die künftige Wiederherstellung der baltischen Staaten zu kämpfen.
Am 25. Juli erfolgte die Ausweichbewegung auf die „Tannenberg-Stellung“. Auf deutscher Seite verteidigten sich 22.000 Soldaten gegen 137.000 Rotarmisten, unterstützt von der 13. Luftarmee. Diese Leningrad-Front griff nun unentwegt an. Doch die “estnischen Thermopylen“, wie sie in der Literatur in Erinnerung an den Spartanerkönig Leonidas der Antike genannt werden, wurden gehalten.
Inzwischen hatte Stalin die Geduld verloren. Er befahl dem Oberkommando der Leningrad-Front, schnellstmöglich bis zur estnischen Hauptstadt Tallin (Reval) vorzustoßen, koste es, was es wolle. Zahlreiche weitere Verbände wurden herangeführt. Darunter befanden sich Kampfpanzer des neuartigen schweren Modells „Josef Stalin“ IS-2. Doch die sowjetischen Generäle gingen methodisch und schematisch vor, sodass ihre Handlungen vorhersehbar waren. Auch kam es zu Fehlern bei der Feindlagebeurteilung. Die sowjetische Aufklärung ging von mehr als 60 Panzern und 800 Geschützen auf deutscher Seite aus. In Wirklichkeit besaßen die Verteidiger nur noch einen einzigen einsatzfähigen Kampfpanzer und 80 Geschütze.
Am 2. August setzte die Leningrad-Front ihre Offensive fort. Elf Schützendivisionen, unterstützt von vier Panzerregimentern, griffen an. Das feindliche Artilleriefeuer erinnerte ältere deutsche Offiziere dabei an die Schlacht von Verdun des Jahres 1916. Die Blauen Berge hatten ihren Namen von den dort stehenden Tannenwäldern, die aus der Ferne blau schimmerten. Jetzt waren fast überall nur noch Baumstümpfe übriggeblieben.
Doch die Angreifer waren nicht in der Lage, Feuer und Bewegung richtig zu koordinieren. Ihr Unvermögen führten deutsche Offiziere darauf zurück, dass diese Truppen zuvor fast 900 Tage lang während der Belagerung Leningrads statisch in Schützengräben eingesetzt waren. Sie beherrschten noch nicht den Kampf der verbundenen Waffen. Dennoch drohten ihre lawinenartigen Frontalangriffe immer wieder, die deutsche Front zu zerbrechen. Die Kämpfe wogten hin und her, wobei die Hügel mehrfach den Besitzer wechselten. Bisweilen sah es so aus, als hätten die Sowjets den Durchbruch geschafft. Die Rotarmisten, die erbarmungslos ins Feuer getrieben wurden, waren aber nach Einnahme der gegnerischen Stellungen so dezimiert, dass sie im Gegenangriff immer wieder zurückgeworfen werden konnten.
Am 10. August hielten die Verteidiger die Schlacht für verloren. Doch überraschenderweise erfolgte kein neuer Angriff mehr. Den sowjetischen Generälen waren die Soldaten ausgegangen. Das Oberkommando der Leningrad-Front brach die Offensive ab. Während auf deutscher Seite 2.500 Tote und 7.500 Verwundete zu beklagen waren, wird auf sowjetischer Seite von 35.000 Toten und mehr als 100.000 Verwundeten ausgegangen.
Doch die Verteidiger der Blauen Berge konnten sich nicht lange ihres Erfolgs erfreuen. Am 14. September eröffneten sowjetische Truppen weiter südlich eine Großoffensive. Sämtliche deutschen Verbände in Estland drohten abgeschnitten zu werden. Nun genehmigte Hitler die Evakuierung. Am 18. September wurde die “Tannenberg-Stellung“ geräumt. Einige Verbände zogen sich nach Lettland zurück, andere wurden auf dem Seeweg über Tallin abtransportiert. Doch erstaunlich viele Esten blieben in ihrem Heimatland und begannen einen Partisanenkrieg gegen die sowjetischen Besatzer. Als „Waldbrüder“ leisteten sie bis in die 1950er Jahre hinein Widerstand.
Viele Esten konnten sich nie mit der Sowjetisierung ihres Landes abfinden. Es dauerte schließlich bis 1991, bis Estland wieder ein freier, unabhängiger Staat wurde. Auf den einst so heftig umkämpften Blauen Bergen ist inzwischen eine Gedenkstätte errichtet worden. Die Blauen Berge gelten heute als Symbol des Freiheitswillens der Esten.
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