Der Ausbruch aus dem Kessel von Vilnius (Litauen) im Juli 1944
Der Ausbruch aus dem Kessel von Vilnius (Litauen) im Juli 1944
- Datum:
- Ort:
- Litauen
- Lesedauer:
- 5 MIN
Die litauische Hauptstadt Vilnius (Wilna) galt als das „Jerusalem des Nordens“. In dieser multiethnischen Stadt lebten vor dem Zweiten Weltkrieg bis zu 40 Prozent Juden. Doch dieser Krieg geriet für die Bewohner zum Martyrium.
Gemäß dem geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 wurde Litauen dem sowjetischen Interessenbereich zugesprochen. Nach dem Einmarsch der Roten Armee im Juni 1940 wurden 35.000 polnisch-litauische Einwohner nach Sibirien deportiert. Noch schrecklicher sollte das Schicksal der dort lebenden jüdischen Minderheit werden. Nachdem die Wehrmacht im Juni 1941 Vilnius erobert hatte, wurde die jüdische Bevölkerung größtenteils vernichtet.
Das Ende der deutschen Besatzung
Drei Jahre später zeichnete sich das Ende der deutschen Besatzung ab. Im Juli 1944 rückte von Osten her die Rote Armee heran. Vorausgegangen war der Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte infolge der sowjetischen Operation Bagration, die größte Niederlage in der deutschen Militärgeschichte. Ursache hierfür war nicht nur die große nummerische Überlegenheit der Roten Armee, die beispielsweise bei der Panzerwaffe 8:1 betrug. Fatal waren auch die Fehlentscheidungen Adolf Hitlers, der in einer militärischen Traumwelt zu leben schien. In seinem „Führerbefehl Nr. 11“ vom 8. März 1944 hatte er die Bildung sogenannter „fester“ Plätze angeordnet und damit das Prinzip der starren Verteidigung geradezu pervertiert.
Befehl zur „freiwilligen Selbsteinkesselung“
Das Oberkommando der Heeresgruppe Mitte wollte angesichts des ungünstigen Verlaufs des weißrussischen Frontbogens bei einem Feindangriff auf eine Verteidigungslinie an der Beresina zurückweichen. Doch Hitler befahl ausgerechnet in den Frontvorsprüngen, die seine Generäle räumen wollten, die Bildung „fester Plätze“, die nur mit seiner Erlaubnis aufgegeben werden durften. Die hier konzentrierten Truppen sollten sich einschließen lassen, was eine freiwillige „Selbsteinkesselung“ bedeutete. Hitler forderte „Halten um jeden Preis“ sowie „Kampf um jeden Quadratmeter bis zum letzten Mann“. Die Folge war, dass in der Schlacht von Minsk drei deutsche Armeen mit etwa 250.000 Mann vernichtet wurden.
Doch trotz dieser Katastrophe war Hitler noch immer nicht bereit, sein Konzept zu ändern, und wollte jetzt erst recht ein Exempel statuieren, indem er auch Vilnius zum „festen Platz“ erklärte. Inzwischen war die sowjetische 3. Weißrussische Front auf litauisches Gebiet vorgerückt. Am 8. Juli gelang es der 5. Garde-Panzerarmee und der 5. Armee, Vilnius einzuschließen. Insgesamt 4.000 deutsche Soldaten saßen in der Falle. Doch Hitler erklärte kategorisch, dass Vilnius „bis zum letzten Atemzug zu verteidigen“ sei. Anstatt rechtzeitig Truppen abzuziehen, schickte er sogar zusätzliche Verbände in den sich abzeichnenden Kessel hinein. Am Flughafen von Vilnius landete das II. Bataillon des Fallschirmjägerregiments 16. Es handelte sich um ein sogenanntes Himmelfahrtskommando. Außerdem ließ Hitler Generalleutnant Rainer Stahel als neu ernannten Kommandanten des „festen Platzes“ in die eingekesselte Stadt einfliegen. Eine zur Verstärkung geschickte Kampfgruppe unter Oberstleutnant Theodor Tolsdorff wurde jedoch bei Lentvaris in einem weiteren Kessel eingeschlossen, ohne das noch zehn Kilometer entfernte Vilnius erreicht zu haben.
Ausbruch von Vilnius
Nun spielte Generalleutnant Adolf Heusinger, der später der erste Generalinspekteur der Bundeswehr wurde, eine entscheidende Rolle. Ihm gelang etwas höchst Seltenes, nämlich Hitler zur Aufhebung einer bereits bekräftigten Entscheidung zu veranlassen. Als Chef der Operationsabteilung im Generalstab des Heeres bedrängte er am 11. Juli mehrmals den „Führer“, der Besatzung von Vilnius den Ausbruch zu erlauben. Er brachte ihn jedoch zunächst nur noch stärker in Rage und wurde schroff zurückgewiesen. Hitler erklärte kategorisch, Generalleutnant Stahel habe „die Stadt zu halten oder mit ihr unterzugehen“. Das verlange man schließlich auch von jedem Kriegsschiffkommandanten. Diese Antwort musste für die eingeschlossenen 4.000 Soldaten das Todesurteil bedeuten. Außerdem fügte Hitler in blankem Zynismus hinzu, dass es ohnehin gleichgültig sei, ob diese Leute in aussichtsloser Verteidigung oder bei einem aussichtslosen Ausbruchsversuch sterben würden.
Daraufhin kam Heusinger auf den überraschenden Einfall, Hitler zu bitten, er möge doch den Eingeschlossenen die Wahl der Todesart freistellen und somit einen Ausbruchsversuch genehmigen: „Es stirbt sich leichter im Angriff als in aussichtsloser Verteidigung.“ Der „Führer“ zeigte sich von diesem Vorschlag derart irritiert, dass er nachgab.
Unerwartete Wendung
Die unerwartete Wendung löste im Oberkommando der 3. Panzerarmee große Euphorie aus. Generaloberst Reinhardt stellte sofort aus Teilen der gerade aus dem Reichsgebiet eintreffenden 6. Panzerdivision und einer Pantherabteilung des Panzerregiments „Großdeutschland“ eine Kampfgruppe für einen Entsatzangriff zusammen. Nachdem in der Nacht vom 12./13. Juli der Ausbruch der Besatzung von Vilnius begonnen hatte, wurde am nächsten Morgen aus dem Raum ostwärts von Kaunas der Angriff gestartet. Generaloberst Reinhardt persönlich führte das Unternehmen. Die Kampfgruppe durchstieß die sowjetische Front und drang etwa 35 Kilometer weit bis zum Kessel der Kampfgruppe Tolsdorff vor. Inzwischen hatte sich auch die Besatzung von Vilnius, unterwegs einen Fluss durchschwimmend, dorthin durchgeschlagen. Den Entsatzkräften mit dem von der vordersten Panzerspitze aus führenden Oberbefehlshaber gelang es, den Kessel aufzubrechen. Reinhardt wurde von den Befreiten „strahlend und winkend“ empfangen. Von insgesamt 4.000 eingeschlossenen Soldaten konnten 3.000 gerettet werden.
Katastrophales Scheitern einer Strategie
Der Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte hatte den Mythos des Feldherrn Hitler endgültig zerstört. Das katastrophale Scheitern der Strategie der „festen Plätze“ offenbarte seinen militärischen Dilettantismus. Außerdem zeigte sich nun erneut in erschreckender Deutlichkeit seine Menschenverachtung gegenüber den eigenen Kräften. Der „Führer“ opferte lieber ganze Armeen, als einen Fehler zu korrigieren. Vor allem richtete sich sein Aggressionstrieb und Zerstörungswille immer stärker gegen die eigenen Soldaten. Er betrachtete ihr grausames Schicksal als gerechte Strafe, weil sie vermeintlich nicht hart genug für ihn gekämpft hatten.
Doch angesichts des von Hitler verschuldeten Fiaskos waren viele seiner Generäle nicht mehr bereit, seine absurden Befehle unhinterfragt hinzunehmen. Das galt besonders für die Angehörigen des militärischen Widerstands. Sieben Tage nach der Krise von Vilnius, entlud sich die Verzweiflung und Wut, die einige Offiziere gegenüber Hitler empfanden, am 20. Juli 1944 in einer Explosion in der Wolfsschanze.
Karte und Text zum Herunterladen
Aktuelle Karte - Grafiken und Karten
Karten oder Grafiken zur Militärgeschichte mit erklärenden Texten zum Download.